Wenn die Wortpiraten David Grashoff und André Wiesler die Bühne entern, wird Dichtkunst zum Wettstreit und das Publikum zum Seegericht. Abgestimmt wird per Goldmünze. Und am Ende kann es nur einen geben.
Sven Hensel steht mit Siegerlächeln und einer goldenen Totenkopfmaske aus Plastik auf der Bühne und reißt die Arme in die Höhe. Das Publikum hat entschieden und ihn mit Goldmünzen zum Gewinner gekürt. Während seiner Zugabe stampft er zeitweise rhythmisch mit dem Fuß auf den Bühnenboden und feuert seinen Text in einem schwindelerregenden Tempo in Richtung Sitzreihen. Er entfernt sich vom Mikrofon, spricht frei in den Raum. Er reimt, er performt – wie ein alter Bühnenprofi. Und dabei ist er gerade erst 19. Doch zurück auf Anfang.
Es ist kurz vor acht und der obere Veranstaltungsraum der „börse“ ist bereits prall gefüllt. Zum größten Teil mit Studenten. Und das bei Außentemperaturen im Minusbereich. Insgesamt sechs Poeten werden sich heute wieder einmal eine unbarmherzige Schlacht um die Gunst des Publikums liefern. Altersspanne: 15 bis ca. 50 Jahre. Eine Poetin, die junge Johanna, betritt heute zum allerersten Mal die Bühne beim Wortex Poetry Slam, der an jedem ersten Donnerstag im Monat von den Wuppertaler Wortpiraten ausgerichtet wird. Den martialischen Namen haben sich die beiden Initiatoren André Wiesler und David „Grasi“ Grashoff ausgedacht, die heute mal nur die Moderation übernehmen und die Zuschauer in Stimmung bringen.
Nerdzeug und Porno
Dem Studentenstatus sind die beiden gebürtigen Wuppertaler längst entwachsen, beide Piraten sind Anfang vierzig, Familienväter und in der Rollenspielszene groß geworden. André Wiesler ist Projektmanager, Spieleentwickler, Autor, Übersetzer und eben Slam-Poet. In der Vergangenheit war er 20 Jahre lang selbstständig, hat Spiele entwickelt und Bücher oder Kurzgeschichten geschrieben. David Grashoff arbeitet hauptberuflich als Speditionskaufmann, in der Slam-Welt repräsentiert er den waschechter Nerd. Seine Texte kreisen oft um die Themen Filme, Computerspiele, Comics – und Schmuddelkram. „Ich mag vor allem die derberen Texte. Ich gehe gerne dahin, wo es weh tut“, sagt er im Gespräch mit Mina.
Den ersten Wuppertaler Poetry Slam haben die beiden Sprachartisten im September 2009 organisiert, knapp sechs Monate nach dem ersten Kontakt mit der Slam-Szene. Magere 45 Zuschauer waren damals anwesend, erinnert sich David Grashoff. „Und das bei einem Wahnsinns-Line-up mit Theresa Hahl, Michael Goehre und Torsten Sträter.“ Seit etwa drei Jahren gibt es neben dem Wortex auch thematische Slams wie den Nerd-Slam oder den nicht jugendfreien Porno-Slam, „da darf man dann alles raushauen“, lacht David Grashoff. Abseits des Veranstaltungstrubels verfolgen die Wortpiraten auch eigene Soloprojekte. André Wiesler tourt beispielsweise mit einem eigenen Bühnenprogramm durch die Republik, und David Grashoff sucht aktuell auf der Online-Crowdfunding-Plattform Startnext.com Unterstützer für eine Hörbuch-CD seines Buches „Dirty Nerd – Texte von der dunklen Seite des Nerdtums“.
Lyrisches Tal
Das textliche Repertoire der Wortpiraten ist zu einem großen Teil darauf ausgelegt, die Zuschauer zum Lachen zu bringen. Das muss natürlich nicht so bleiben: „Ich kann mir nicht vorstellen, die nächsten zehn Jahre das gleiche Zeug zu machen“, so André Wiesler. „Man möchte sich ja weiterentwickeln.“ Auch wenn lustige Texte meist eher den Geschmack des jungen Publikums träfen, bedeute das nicht, dass auf Poetry Slams nur verkappte Komiker zu sehen und zu hören seien. „Wir haben wirklich hervorragende Lyriker in Deutschland. Nicht alle machen immer nur lustige Sachen“, sagt David Grashoff. „In Wuppertal und Umgebung gab und gibt es eine Menge gute und erfolgreiche Slammer“, ergänzt André Wiesler. „Das wissen viele nicht.“
David Grashoff: „Der Poetry Slam hat in Deutschland auch einen anderen Stellenwert als in Frankreich oder den USA. Dort geht es mehr um ernste persönliche oder soziale Probleme. Zum Beispiel, wie es ist, wenn man als afrikanischer Migrant in Paris aufwächst. Das gibt es hier eher nicht. Bei uns ist Poetry Slam ein Mittelstandsding.“ In Deutschland seien die Slams mittlerweile zum Unterhaltungsformat geworden, so David Grashoff, „allerdings ein anspruchsvolles Unterhaltungsformat“.
Zurück auf der Bühne. Der Gewinner Sven Hensel konnte dem Publikum mit seinem gefühlvollen Text „Flugzeuge“ die Goldmünzen aus der Tasche ziehen. Ein Text über Liebe, Homosexualität und Diskriminierung. Ein Text zum Nachdenken. Ein Appell für Toleranz, ohne Komik, ohne platte Witze. Sven Hensel gehört eindeutig nicht zu denen, die auf die schnellen Lacher aus sind, sondern eher zu den Lyrikern. Und das Publikum dankt es ihm, mit tobendem Applaus.